Heiko Antoniewicz – Impulsgeber mit Kopf, Herz und Bauch

Oder: Warum „mmmmhhh“ den Geschmack verändert

7:30 Uhr, es ist feucht-kalt, nebelig: Herbstwetter. Der kleine Lieferwagen parkt am Seiteneingang, da geht’s auch zur Küche. Vier Leute steigen aus, alle in Schwarz. Das A-Team ist da. So steht es zumindest in petrolfarbenen Buchstaben auf den Jacken und auf dem Van. Das „A“ steht für Antoniewicz. Denn heute ist Workshop-Tag. Angemeldet sind knapp 20 Leute, Köche aus unterschiedlichen Häusern, unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlicher Erfahrung. Was sie alle gemeinsam haben? Sie freuen sich auf neue Impulse von Heiko Antoniewicz – einer von ihnen, der aber doch etwas anders ist. Er habe sich nie nur als klassischer Koch verstanden, sagt er über sich selbst. Er sei vielmehr ein Suchender.

Als Dozent hat er sich in Europa und Asien einen Namen gemacht. Seine Workshops und Vorträge zeichnen sich durch einen hohen Wissenstransfer aus. Dabei infiziert er zudem unterschiedlichste Zielgruppen mit seiner ungezähmten Kochleidenschaft. Auf die Frage nach seinem Leibgericht antwortet er mit leichtem Schmunzeln: „Immer der nächste neue, unerwartete, andere Geschmack, aber Tomate, Mango, Olivenöl sind schon wichtig für mich – im Gegensatz zum Beispiel zu Zwiebeln, Pfeffer und Kiwi. Auf die könnte ich verzichten.“

Nach zwei Stunden Vorbereitung geht es los: „Hallo und guten Morgen! Mein Name ist Heiko Antoniewicz. Schön, dass Sie da sind. Lassen Sie uns heute gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen. Dafür müssen wir aber nicht in ferne Länder reisen. Inspirationen findet man überall. Die Exotik, die uns erwartet, liegt direkt vor unsere Nase, ist sozusagen schon auf dem Teller – oder eben doch nicht. Es geht mir darum, Vergessenes und Bekanntes neu zu entdecken, neue Zusammenhänge herzustellen. Es geht um Wertschätzung und bestmögliche Verwertung von Lebensmitteln. Es geht um alte Methoden und moderne Technologie, es geht um Kochen als Handwerk und Zubereitung von Speisen als Philosophie.“

Antoniewicz ist der Impulsgeber der gastronomischen Szene Deutschlands

Nach dieser Einleitung ist jedem klar, dass Antoniewicz kein Koch im klassischen Sinne ist. Und genau deshalb sind sie hier. Schließlich wurde er im September 2019 zum vierten Mal in Folge zum Impulsgeber der gastronomischen Szene Deutschlands gewählt. Es folgt eine Mischung aus Lebensmittelzubereitung, Verkostung und Vortrag. Dabei bleibt Antoniewicz sehr intuitiv. Er ist dicht dran an den Leuten und mitten im Thema und doch in einer Art Vogelperspektive. Er verändert den Blickwinkel der Teilnehmer und zeigt dabei Zusammenhänge auf, die bisher nicht gesehen wurden.

Ganz nebenbei verteilen er und seine fleißigen Helfer Kostproben und kleine Geschmackskreationen – begleitet von einem breiten „Mmmmhhh“ des Referenten selbst. „Wussten Sie, dass ein „mmmhhh“, aber auch die Farbe des Tellers oder ein „guten Appetit“ unser Geschmacksempfinden beeinflusst? Wer etwas zubereitet, sollte nicht nur dafür sorgen, dass es gut schmeckt“, so Antoniewicz weiter, „Er sollte vielmehr das Geschmackserlebnis planen und aufbauen. Es geht darum, alle Sinne einzubeziehen. Der erste Bissen ist für die Augen, der zweite für die Nase, der dritte für den Tastsinn der Lippen, der vierte für die Zunge, der fünfte für die Ohren und der sechste für das Erleben des gesamten Geschmackserlebnisses auf einmal.“

Für Antoniewicz macht gutes Essen ein gutes Bauchgefühl, auch im übertragenen Sinn. „Wenn wir uns anschauen, wie unsere Vorfahren mit Lebensmitteln umgegangen sind, wie Sie das, was Sie fanden, gejagt, kultiviert und gezüchtet haben, vollständig verwertet und frisch oder konserviert durchs ganze Jahr genutzt haben, können wir heute genau da wieder anknüpfen. Damals aus der Not, weil es nichts gab, heute, könnte man sagen, aus der Not, da es zu viel zu billig gibt und wir alle zu viel wegwerfen – auch in der Profi-Küche.“ „Wir brauchen eine neue Koch- und Küchentradition. Wir müssen wertschätzender und nachhaltiger mit Lebensmitteln umgehen. Die Devise heißt: frisch, regional, saisonal. Wir müssen uns darüber hinaus klarmachen, dass die Gäste erwachsen geworden sind. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen, sind gut informiert und vor allem interessiert. Es ist Zeit für einen partnerschaftlichen Umgang miteinander.“

Antoniewicz: "Ich will die Vielfalt von Lebensmitteln für Andere erfahrbar machen"

Was er denn genau damit meine, fragt einer der Anwesenden. „Ich mag Präzision. Sehr. Auf dem Teller und um den Teller herum. Genauso Wertschätzung gegenüber jedem einzelnen Gast und jedem einzelnen Gericht. Und schließlich mag ich Geschmack. Guten Geschmack. Fein abgestimmten Geschmack – ganz egal in welcher Form und Preisstufe der Gastronomie“, antwortet Antoniewicz. „Das alles darf und soll der Gast dann auch von mir als Koch oder Gastronom erwarten. Gleichzeitig fordere ich aber auch, dass die Gastronomie selbstbewusst ihren Wert beziffern darf und muss. Die Zeit der Vor- und Zubereitung, das ganze Wissen, die eigentliche handwerkliche Arbeit und schließlich die frischen Produkte, das alles hat seinen Preis und ist ihn auch wert. Gute Küche kostet!“

Im Laufe der nächsten drei Stunden spannt Antoniewicz einen Bogen von den Anfängen des Fermentierens vor 5000 Jahren als älteste Konservierungsmethode, deren Wiederentdeckung als natürliche Geschmacksverstärkung moderner Sterneküche über die Nachtmärkte in Kuala Lumpur und die kulinarischen Wurzeln der Fusion-Küche als natürlich gewachsener Bestandteil der malayischen Landeskultur bis hin zum Cocktail aus gebranntem westfälischem Dinkelkorn. Aus den Inspirationen seiner Reisen und der Arbeit in seinem „Labor“ beziehe er die Kraft, nicht nur Rezepte innovativ zu entwickeln, sondern komplette Food-Konzepte und Produktideen. Dafür nutze er moderne Ansätze der Wissenschaft ebenso wie das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Gewerke. „Alle diese Einflüsse verarbeite ich in den vielen Facetten meines Kochlebens. Ich will die Vielfalt von Lebensmitteln in ihrer Tiefe selbst erfahren und gleichzeitig für Andere erfahrbar machen.“

Fast zum Schluss, als noch einer nachfragt, wie er selbst denn eigentlich zum Kochen gekommen sei, wird es nochmal ganz persönlich: „Ich muss so neun gewesen sein. In der Kultsendung „drehscheibe“ kochte Max Inzinger damals in den 1970-ern und brachte als einer der ersten Köche Kochen ins Fernsehen und damit in die Wohnzimmer. In einer Sequenz sammelte er im Wald Löwenzahnblätter und richtete diese dann im Studio mit gebratener Hähnchenleber zu Salat an. In dem Moment war klar: Das wollte ich auch! Ich wollte Koch werden.“

Hintergrund

Gelernt hat der heute 54-jährige Heiko Antoniewicz im Lennhof in Dortmund. Er wechselte dann zu Gerhard Gartner im Aachener Restaurant Gala. 1989 wurde er stellvertretender Küchenchef unter Berthold Bühler in der Résidence in Essen. 1992 gründete er den Tafelservice Art Manger. Nach dem Ende des Tafelservices begann er 2004 als Küchendirektor beim Frankfurter Caterer Kofler & Company und wurde zweimal als Caterer des Jahres ausgezeichnet. Seit 2006 ist Antoniewicz als selbständiger Berater und Trainer in den Bereichen Molekulare Küche, Catering, Qualitätsmanagement und Produktentwicklung tätig. Seit 2008 entwickelt er als Geschäftsführer der Antoniewicz GmbH  innovative kulinarische Konzepte und Produkte.

Als Buchautor bekam er mehrere Auszeichnungen. Sein erstes Buch „Fingerfood – Die Krönung der kulinarischen Kunst“ hatte avantgardistische Küche zum Thema. Das Buch wurde mit dem World Cookbook Award als „Innovativstes Kochbuch der Welt“ ausgezeichnet. Es folgten „Verwegen Kochen“ und „Molekulare Basics“, die sich mit „Molekularküche“ beschäftigen. Mit „Brot“ verließ er die klassischen Küchenpfade. Es wurde als „Bestes Brotbuch der Welt“ vom World Cookbook Award prämiert. „Sous Vide“ ist ein Grundlagenwerk für das Vakuumgaren, es wurde ins Englische übersetzt. „Flavour Pairing“ versteht sich als Atlas von Aromenkombinationen. „Fermentieren“, „Vegetarisch“ und „Veredelung“ gehören mittlerweile zur Grundlagenliteratur der Branche. „Umami“ wurde mit der Goldmedaille der Gastronomischen Akademie Deutschlands e.V. ausgezeichnet. Im Sommer 2020 ist zusammen mit Ludwig Maurer das Buch „Wilder Wald“ erschienen.