Antje de Vries – Fernweh auf der Zunge

„Ich habe keinen Beruf und keinen festen Wohnsitz, ich bin auf der Durchreise. Meine Mission: Menschen mit Essen zu inspirieren und zu verbinden. Dass ich dabei nomadenhaft von einem spannenden Ort zum nächsten tingeln darf, ist aufregend schön.“

Aus dem Leben einer Foodnomadin

Anfang der 1980er-Jahre irgendwo in Ostfriesland am Meer. Zwischen Marschland, norddeutscher „Reizunterflutung“ und Rosenkohl nimmt meine Reise ihren Anfang. Der Schüleraustausch als Teenager nach Texas ist fast wie eine Flucht. Am ersten Tag hier bin ich auf einem Markt und ein Farmer bietet mir ein Stück Honey Dew Melone an. Kenne ich nicht. Es ist fast wie ein Erweckungserlebnis für mich. Die Melone war so unglaublich saftig und ihr frisch-süßer, blumig-grasiger Geschmack hat mich komplett erfüllt. Ich bin einfach nur geflasht und es ist um mich geschehen. Ab jetzt fange ich an, Kochen und Essen als meine Art der Kommunikation zu nutzen.

Zurück in Deutschland ist klar: nach dem Abi lerne ich Köchin! Also, auf in die weite Welt – nach Bremen. Klassisch, drei Jahre bis zur Köchin in Grashoffs Bistro und Maritim Hotel. Das ist meines Erachtens übrigens viel zu lange Zeit für nur einen Betrieb. Das Ausbildungssystem für Köche/Köchinnen braucht dringend ein „make over“!

Eigentlich habe ich ein Stipendium für das Culinary Institute of America. Schon krass, wie viel Talent man braucht, um in der Küche richtig gut zu sein, da passe ich mal lieber den Kurs an. Lieber weiter, immer rastlos Richtung Wissenschaft und Wirtschaft. Studium in Gießen, Ernährungsökonomie, erneut Aufbruch ins Unbekannte. Mit der Einschreibung verfällt das Stipendium – Mist! Das Studium ist super spannend und bereichernd, aber die Küche und ihre Menschen fehlen – der glückliche Zufall spült mich ins Team von Heiko Antoniewicz, ins Epizentrum der Deutschen Avantgarde Küche.

„Alle meine Stationen und Leben sind ein Teil von mir und werden mich immer begleiten. Orte auf der Welt reizen mich. Also versuche ich immer die Augen und Antennen offen und frei zu halten.“

So, Studium abgeschlossen. Zurück an die Küste, nach Bremerhaven, Deutsche See – Achtung Wortspiel: gleich ins große Haifischbecken. Hamburg wird die wunderschöne Wochenend-Heimat mit dem besten Partner, den ich mir vorstellen kann. Unter der Woche im Job lerne ich viele tolle Menschen und Freunde kennen, sammle viel Erfahrung. Ich treffe Egbert Miebach und darf mit ihm spannende Projekte anschieben – eine große Ehre und Bereicherung für mich. Dann eine fatale Lebensentscheidung: Absolute Achterbahn – emotional, privat und geschäftlich, drei tragisch-turbulente Jahre und: schließlich ein Eklat. Vermeintlich „einmal alles verlieren, bitte!“. Ich stehe vor dem Nichts. Das ist schlimm. Im ersten Moment.

Ein kurzes Taumeln, beherztes Intermezzo als Kindergartenköchin und Unterstützung durch meine tolle Schwester Hilke, die mich kurz darauf liebevoll nach Norwegen schubst. Eine besondere und intensive Zeit. Ich arbeite als Küchenchefin im Kinsarvik Fjord Hotel und nutze die krasse Natur der Hardangervidda als Heilmittel. Dann ergreift mich dieses aufregende und befreiende Gefühl.Ich will mich nicht mehr von vermeintlichen Limitierungen und Grenzen, die wir uns selbst auferlegen, einschränken zu lassen. Ich möchte etwas von meiner privilegierten Situation zurückgeben, möchte mein „why“, meine Mission und meine Leidenschaft ausleben, Freude finden und andere teilhaben lassen. Meine Mission: Menschen durch Essen verbinden. Wann und wo ich will. Ich muss los. Ich komme zu dem Entschluss, dass ab jetzt ein fester Wohnsitz keinen Sinn mehr ergibt. Aber „wohnungslos“? Nein! Ich bin auf der Durchreise! Mit vielen schönen Bleiben, mit sehr leichtem Gepäck, tollen Orten und noch mehr interessanten Menschen, wie sich bald zeigen wird.

Die erste Station ist Bali: 2500 Dollar für fünf großartige, wunderschöne Wochen. Das Meiste davon haue ich direkt danach bei den kulinarischen Reisen durch Malaysia und Thailand raus. Tja, wenn ich schon mal hier bin ...  Hm, wenig verdient, viel gepokert, aber gelernt, mit wenig auszukommen. Bin oft pleite. Aber irgendwie geht‘s weiter. Ich merke, wie wenig man eigentlich braucht. Und das ist doch der wahre Luxus, sage ich mir. Geld war noch nie meine Währung. Gemeinschaft, Ideen, Inspiration, das sind doch viel schönere Werte! Und das Gute ist ja, dass mein Leben in der Gastro immer genussvoll und mit gutem Essen und guten Getränken gespickt ist.

Ich versuche, die privilegierte Situation, der ich in diesem Teil der Welt entsprungen bin, immer wieder zu schätzen und verantwortlich damit umzugehen. Ich möchte das mit anderen teilen und etwas zurückzugeben. Deshalb reise ich weiter durch die Welt, um bei Kollegen und Gästen Interaktion und neue Erfahrungen mit einem Essen, einem Setting, einem Thema auszulösen. Ich glaube, dass Essen, Trinken und Gastronomie als eine Art Medium eine besondere Art des Zugangs zu Themen und Beziehungen sind. Wenn wir Situationen oder Gerichte gestalten, bei denen Menschen einander oder sich selbst auf eine intensive Art begegnen, haben wir etwas Neues, Großes, Einmaliges geschaffen und teilbar gemacht. Übrigens glaube ich fest daran, dass es nur den "einen Gast" gibt, der jeder einmal ist. Vielleicht sind wir Gastroleute die Gastgeber/innen, aber im nächsten Moment sind wir selbst irgendwo zu Gast.

Ich verbinde jedes Gericht immer gleich mit einem Ort, einem Erlebnis.

Ich komme, um zu unterstützen, um Sicherheit zu geben, um zu inspirieren. Bei meinen Projekten, in der Küche bin ich wie ein „Cheerleader". Jemand, der das Team emotional supportet, den Flow antreibt, Heiterkeit bringt. Übergeordnet bin ich wahrscheinlich gerne der freie Vogel, der Ideen und Impulse aus anderen Blickwinkeln, anderen Kulturen einwirft. Dabei habe ich das Glück unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können. Im Zusammenspiel mit meinen Kunden entsteht etwas Neues und Individuelles. Ich bin frei und tingle essensfokussiert durch die Welt. Das gefällt mir. Das ist ja nicht vielen vergönnt. Das weiß ich zu schätzen.

Rein fachlich, in einem normalen Küchenjob, wäre ich wahrscheinlich die Poissonière oder die Légumière. Die Schönheit und Aromatik der Fische und Meeresfrüchte und die von Gemüse und Früchten fasziniert mich total. Ich selbst brauche eigentlich nur Oliven, Pasta, Chili. Obwohl – ich mag so viel so gern. Wahrscheinlich aber immer was Gemüsiges, was Würziges, was Kräuterig-Ätherisches. Aber bei mir ist jeder Geschmack, jedes Gericht immer mit einem Ort, einem besonderen Moment verbunden: verliebtes Soul Food in Umbrien, goldgelbe Gnocchi oder sizilianische Pasta alla Norma, Pizza mit Oliven, Tomaten, Basilikum, pudrig-duftiges Pandan, fein-frisches Kemangi, parfümige Kaffirlimette mit erdig-fettig-würzigem Curryleaf auf Bali, oder Tacos in Austin, mit duftigen selbstgemachten Maistortillas und rauchigen, scharfen Chilis, frittierten Austern in Lousiana, Southern Seafood und ganz viel Koriander. Ähm, und Champagner – natürlich – im Heroes Loft in Frankfurt oder doppelt gut: irgendwo am Meer. Abgesehen von meinen Vorlieben glaube ich, dass die Welt sich deutlich entspannen würde, wenn wir alle weniger Tiere und mehr Pflanzen konsumieren würden. Das wird sowieso wichtiger werden in der Zukunft: Pflanzen, Pilze und noch mehr traditionelle gute Technik und Handwerk für mehr Geschmack.

Wenn ich in der Welt unterwegs bin, übernachte ich in einem beschaulichen Bahnhof irgendwo im Nichts, am Flughafen oder bei Freunden. Es findet sich immer was. In einer Nacht spricht mich Alberto an, ein junger Italiener, der mit Eurorail unterwegs ist. Erst hab ich mich voll erschreckt, bin misstrauisch. Aber daraus wird eine Freundschaft. Wir treffen uns seither an verschiedenen Orten der Welt. Mein Freund Shin aus Japan nimmt mich oft mit zu seinen Gastkochauftritten. Vor einer Tour, um ihn in New York zu treffen, habe ich all mein Geld im Frantzén verballert – da bleibt nur noch die Flughafenbank als Schlafplatz. In den fast 24 Stunden dort lerne ich einen coolen Herrn aus Äthiopien kennen. Er reinigt dort die Toiletten. Gemeinsam sitzen wir eine Ewigkeit vor der Damentoilette und er erzählt von seiner Heimat und dem großartigen Essen dort. Das erlebt man nicht, wenn man "stinknormal" im Hotel übernachtet. Nächste Station: Montescudaio, Toskana. Meine liebe Freundin Eva hat hier einen kleinen Olivenhain. Gemeinsam mit ihren Eltern ernten wir wie jedes Jahr, kochen, schnacken, lachen, genießen – schön! Dann wieder unterwegs mit Shin beim La Liste Event in Paris – zuerst Mise en place mit japanischen Kollegen im Keller des Plaza Athénée, dann Wasabi reiben im Pariser Palast, Schulter an Schulter mit vier japanischen Köchen mit insgesamt acht Sternen – ich dazwischen als Wasabi-Azubi. Note: aufregend! Die ganze Kultur in Japan lässt mich sowieso immer wieder stoppen, innehalten, nachdenken und nachfragen. Eigentlich sollten wir alle inzwischen soweit sein, dass wir uns austauschen und teilen zum Besten der Gemeinschaft weltweit. Leider schauen wir immer noch zu oft auf uns und unsere Belange. Together is better! Ortswechsel: wieder Bali. Ich entwickele mit Küchenchefs in einem wilden Mix aus English, Bahasa Bali und Zeichensprache neue Food-Konzepte und Menüs. Zeitsprung, (fast) selber Ort: Ich begleite ein zeremonielles nächtliches Schlachtfest und esse anschließend im Morgengrauen traditionell in der Dorfgemeinschaft auf dem Boden von großen Platten mit den Händen – so viele Geschichten, bald zu lesen in einem neuen Buch. Besonders viel lerne ich gerade in Sierra Leone. Da tickt die Zeit anders – „we are waiting for time“, Werte sind anders. Kochen auf offenem Feuer und selbst gepumptem Wasser bei über 40 Grad. Die Menschen sind glücklich. Ich habe Respekt vor den mutigen Frauen dort. Sie setzen sich gegen weibliche Genitalverstümmelung und für die Stärkung und Bildung von Mädchen ein – sehr besondere Momente.

Vorbilder, Ausblicke und Meer ...

Essen und mit tollen und inspirierenden Menschen gemeinsam Neues entdecken. Das hat mich genau wie mein Fernweh schon immer fasziniert. Wenn ich mal zurückblicke, mit wem ich schon alles gearbeitet habe, wer mich inspiriert und geprägt hat.

Heiko Antoniewicz zum Beispiel, als Küchenchef genauso, wie auch als jemand, der Themen neu entdeckt und immer neugierig bleibt. Rosio Sanchez, eine coole Frau, die eine toughe Zeit im noma hatte, sich aber mega durchgebissen und dabei nicht die Freude an der Gastro verloren hat, sondern mit neuen Läden kreativ ihr Wurzeln feiert. Oder Jordi Roca, der wunderschönen Wahnsinn kultiviert und Menschen dabei berührt. Mal unter uns: ich genieße es sehr, im "Gastro-Club" zu sein – die sind halt schon die Coolsten!

Was mich seit je her beeindruckt, ist nach vorne zu schauen – immer zuversichtlich und voller Vertrauen. Muss man wahrscheinlich auch, so, wie ich lebe. Auch wenn die Neugier und die Abenteuerlust immer da sind, habe ich in den letzten Jahren ein bisschen Geduld gelernt und vor allem Verständnis für andere Menschen. Beruflich führt mich das manchmal auch in etwas „seriösere Bahnen“, ohne dass ich mich selbst verbiegen muss. 

Ich bin Teil von F&B Heroes aus Frankfurt. Jeder hat ein besonderes Talent. Neben dem fachlichen, internationalen Know-how habe ich eine kindliche, wild-kreative Phantasie und auch den Mut diese auszuleben. Wir F&B Heroes entwickeln gastronomische Visionen, Food Konzepte und Kulinarische Identitäten. Ein Freund fragt: hä, was soll das denn sein? Tja, sage ich, das ist die Übersetzung einer Marke, eines Unternehmens, eines Wertekonstruktes in eine kulinarische Erlebbarkeit, in einen Duft, Geschmack, Sound, ein Gefühl. Klingt esoterisch, wird dann aber systemisch strukturiert und klappt emotional. Ich kann auch Konzept, mein Lieber! Das ist aber eigentlich nichts anderes, als das, was ich vorher bzw. immer schon mache. Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, gemeinsam mit einem motivierten Team Ideen umzusetzen – in Form strukturierter Prozesse, durchdachter, kreativer Gerichte, in gesunde und ertragreiche Unternehmen und in berührende Kundenerlebnisse. Ich arbeite auch mit der Star-Fotografin Vivi D’Angelo zusammen, gestalte Reportagen, Rezeptstrecken und Kulinarische Bücher. Natürlich haben die oft einem Bezug zu meinen Reisen durch die Kulturen und Küchen der Welt. Unser letztes Buch wird sogar vom Buchhandel ausgezeichnet. Fermentieren, ausgerechnet. War doch, klar, sagt einer, weil das Thema gerade total hipp ist. Für mich aber nicht, bzw. schon immer. Die natürlichen Prozesse der Fermentation potenzieren die Geschenke der Natur zu Geschmacksexplosionen - super aufregend! Fermentierte Lebensmittel dokumentieren zudem die Facetten des Produktes, das Terroir, die Kultur und die kulinarische Entwicklung unterschiedlichster Regionen, Völker, Küchen – extrem spannend und nahezu unendlich! Durch Pop-ups, Events und kulinarische Installationen in Kooperation mit meinen Partneragenturen „Foodlab. Hamburg", "Blank Space Projekt", Copenhagen und "Hej Studio", Bregenz und mit befreundeten Gastro-Kollegen erreichen und verbinden wir so immer wieder Menschen auf genussvolle Art.

Aber wo stehe ich heute, mitten in der Coronakrise, mitten im Lockdown, der die Gastro mit voller Härte trifft? Ich spüre die krassen Einschränkungen und versuche mich gerade deswegen weiterzubewegen, zu gucken, zu teilen. Und hier? Die lange Lockdownphase beutelt viele Betriebe. Es tut weh, das mitansehen zu müssen. Aber vielleicht ist COVID auch ein Brennglas, das deutlich macht, wo Schwächen und Chancen liegen. Jeder und jede einzelne in der Gastro wird nachdenken müssen, warum er dies oder das tut, bzw. tun muss, um demnächst wieder Gäste zu haben. Es wird Zeit, Wege zu finden, wie Gastfreundschaft über den klassischen Besuch im Restaurant hinaus passieren kann – also auch remote, digital, zeitlich entkoppelt. Ich denke, Themen wie Rückbesinnung auf die Kraft der Natur mit smarten, nachhaltigen Techniken, Technologien, Systemen für eine Gastronomie als genussvolle Interaktion zwischen Menschen werden entscheidend sein. Und heimlich habe ich die Hoffnung, dass die Entbehrung die Gäste realisieren lässt, wie wichtig die Gastronomie für eine gesunde Gesellschaft ist. Mit meinen Worten: connecting and inspiring people through food! Auf jeden Fall eine große Herausforderung, aber auch eine spannende Evolution der Gastronomie.

Jetzt stehe ich hier, halte kurz inne. Am Meer, wo auch sonst. Eine kurze Rast-Stätte in diesen turbulenten Zeiten. Man braucht eigentlich ganz wenig zum Glücklichsein. Wieder bestärkt mich die Kraft und die Größe der Natur. Das Meer beeindruckt mich, macht mich krass ehrfürchtig. Vielleicht liegt das doch auch ein bisschen an meiner Kindheit, hier in der friesischen Heimat. Ich mag es, hier in der Brandung zu stehen, oder an der Holländischen Küste Kite surfen zu üben, in Portugal in die Ferne des Ozeans zu schauen. Immer in der Hoffnung, eines Tages mal im Namen meines verstorbenen Piraten-Papas richtig weit auf die Meere hinaus zu fahren. Langsam realisiere ich, dass meine Reise eigentlich gar keine örtliche ist, sondern eine innere. Und damit bin ja noch nicht fertig, noch nicht angekommen: eine kulinarische Kopf-Nomadin und Comfort Zone-Crasherin mit Fernweh auf der Zunge. Oder wie Mark Twain es schrieb: "... you will be more disappointed by the things that you didn’t do than by the ones you did do. So throw off the bowlines. Sail away from the safe harbor. Catch the trade winds in your sails. Explore. Dream. Discover.”